Logo der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt

Beeinflussung der Ergebnisse der biologischen Dosimetrie durch Zellzyklusverzörgerung bei höheren Dosen von Röntgen- und Neutronenstrahlung

10.05.2006

Die Bestimmung von Chromosomenaberrationen ist ein empfindliches biologisches Verfahren zur Abschätzung der Dosis einer ionisierenden Strahlung, die auf ein Individuum eingewirkt hat. Für die systematische Untersuchung bestimmter Einflussfaktoren auf die Validität und Zuverlässigkeit der Dosisabschätzung einer Strahlenexposition wurden Blutproben u.a. in dem intensiven, kollimierten Neutronenfeld an der Ionenbeschleunigeranlage der PTB bestrahlt.

Strahlenbiologen aus ca. 10 verschiedenen Universitäten und Forschungsinstituten nutzten in den letzten Jahren die verschiedenen Bestrahlungsanlagen mit Ionen und Neutronen im Fachbereich
6.4 "Ionenbeschleuniger und Referenzstrahlungsfelder". Das breite Spektrum an Teilchensorten (n, p, d, 4He) mit Energien zwischen 20 keV und 20 MeV, die besonderen Messmethoden und Erfahrungen in der Dosimetrie sowie der Mikro-Ionenstrahl bieten einzigartige Bedingungen für die strahlenbiologische Grundlagenforschung. Im Folgenden wird als Beispiel das Forschungsprojekt von Frau Dr. Heimers (U. Bremen) und Mitarbeitern der Arbeitsgruppe 6.41 beschrieben. Dieses Projekt wurde vom Bundesamt für Strahlenschutz ausgeschrieben und gefördert. Für die Bestrahlung von Blutproben mit hohen Neutronendosen wurde ein neues, intensives Neutronenfeld mit einer breiten Energieverteilung und einer mittleren Energie von 2,1 MeV etabliert.

Die Analyse von Chromosomenaberrationen ist ein empfindliches Verfahren der Biologischen Dosimetrie zur Abschätzung der Dosis einer ionisierenden Strahlung, die auf ein Individuum eingewirkt hat. Gegenstand des Forschungsprojektes (BfS-St.Sch. 4321) war die systematische Untersuchung bestimmter Einflussfaktoren auf die Validität und Zuverlässigkeit der Dosisabschätzung einer Strahlenexposition. Diese Abschätzung basiert auf der Häufigkeit bestimmter Chromosomenaberrationen, dizentrischer Chromosomen (dic) und Ringchromosomen (cRing), die in den T-Lymphozyten des peripheren Blutes induziert worden sind. Die Anzahl aberranter Zellen, die nach einer bestimmten Kulturzeit beobachtet werden, in der Regel nach 48 h, ist abhängig von der Kinetik der exponierten Zellpopulation, d. h. der Zellzyklus aberranter Zellen kann verzögert sein, so dass ihre Zellteilung unter Umständen nach 48 h Kulturzeit nicht vollendet ist und sie damit in der Analyse nicht erfasst werden. Dadurch kann es zu einer Unterschätzung der äquivalenten Ganzkörperdosis kommen.

Solche Zellzyklusverzögerungen (mitotic delay) treten insbesondere nach hohen Dosen auf, sie sind aber auch abhängig von der Strahlenqualität. Diese Beobachtung ist bedeutsam für die Bestimmung der Relativen Biologischen Wirksamkeit (RBW) dicht ionisierender Strahlung. Diese würde für Strahlungsarten mit höherem LET systematisch unterschätzt, wenn nach einer Standardkulturzeit von 48 h stark geschädigte Zellen die Mitose möglicherweise noch nicht erreicht oder abgeschlossen haben. Durch das gleichzeitige Vorhandensein von bestrahlten und unbestrahlten Lymphozytenpopulationen ist die Interpretation von Aberrationsfrequenzen nach einer Teilkörperbestrahlung, wie sie bei Strahlenunfällen recht häufig vorkommt, komplizierter. Bestrahlte Zellen haben einen Selektionsnachteil gegenüber unbestrahlten Zellen, d.h. sie teilen sich verzögert oder überleben die Mitose nicht. Mit hohen Dosen locker ionisierender Röntgenstrahlung (200 kV) und dicht ionisierender Neutronenstrahlung (mittlere Energie <En> = 2.1 MeV) wurde untersucht, ob unterschiedliche Dosis und LET einen Einfluss auf die Proliferationsgeschwindigkeit und damit auf die ermittelte Aberrationsfrequenz nach verschiedenen Kulturzeiten haben. Dieser Fragestellung wurde mit simulierten Ganzkörper- und Teilkörperexperimenten nachgegangen.

Von fünf männlichen Probanden (Alter: 42 - 52 Jahre) wurden Blutproben genommen. Ein Teil der Proben erhielt am Zentrum für Umweltforschung und Umwelttechnologie (UFT) der Universität Bremen 200 kV Röntgenstrahlung mit Dosen von 1, 2, 3, 4 und 5 Gy. Die Bestrahlungen der anderen Proben mit Neutronendosen von 0,1; 0,3; 0,5; 0,7 und 1,0 Gy erfolgten in einem intensiven, kollimierten Neutronenfeld an der Ionenbeschleunigeranlage der PTB. Als Neutronenquelle wurde die (9Be + d) - Reaktion mit einer Deuteroneneinschussenergie von
Ed = 3,4 MeV benutzt. Die mittlere Neutronenenergie betrug <En> = 2,1 MeV und es wurde eine Dosisleistung von ca. 0,03 Gy/min erreicht. Die Wasser-Energiedosis wurde mit einer Ionisationskammer aus gewebeäquivalentem Material (A150-Plastik) - gefüllt mit gewebeäquivalentem Gas (TE) - bestimmt.

Pro Bestrahlungspunkt wurden jeweils 48 h, 56 h und 72 h Kulturen nach Standardprotokoll (Fluoreszenz-plus-Giemsas (FPG) -Färbung) angesetzt. Für die simulierten Teilkörperexpositionen wurde das Blut von zwei Probanden mit den genannten Dosen bestrahlt und unterschiedliche Mischungsverhältnisse (25%, 50%, 75%) von bestrahltem und unbestrahltem Blut hergestellt. Ausgewertet wurden ausschließlich Metaphasen der ersten Teilungsphase.

Es erfolgten Anstiege in der Häufigkeit strahlentypischer Chromosomenaberrationen mit der Dauer der Kulturzeit, wobei nach Röntgenexposition in der Gesamtgruppe signifikante Unterschiede zwischen 48 h und 72 h Kulturzeit für alle Dosen > 2,0 Gy, für 2,0 Gy und 4,0 Gy auch zwischen 56 h und 72 h zu beobachten waren. Für die Neutronenexposition gab es signifikante Unterschiede zwischen 48 h und 72 h nach 0,1, 0,5, 0,7 und 1,0 Gy. Ebenfalls waren signifikante Unterschiede für 0,7 Gy und 1,0 Gy auch zwischen 56 h und 72 h zu beobachten. Die Anzahl stark geschädigter Zellen stieg mit Dosis und Dauer der Kulturzeit nach Anwendung beider Strahlungsarten an, nach Röntgenexposition zeigte sich in allen Fällen eine Poisson-Verteilung von dic und cRing, nach Neutronen eine Überdispersion. Neutronen verursachten eine stärkere Zellzyklusverzögerung als Röntgenstrahlen und insbesondere stark geschädigte Zellen benötigten bis zu 72 h Kulturdauer, um in der ersten Metaphase sichtbar zu werden. Die beobachtete Zellzyklusverzögerung ist also abhängig vom LET und der Dosis der angewendeten Strahlung.

Dosis-Wirkungskurven bilden die Grundlage für Dosisabschätzungen nach einer applizierten Strahlendosis. Die hier erhobenen Daten bestätigen für die 200 kV Röntgenstrahlung linear-quadratische Dosis-Effektmodelle für alle drei Kulturzeiten, für <En> = 2,1 MeV Neutronen lineare Dosis-Effektmodelle für 48 h und 56 h und ein linear-quadratisches für 72 h. Abhängig von den Koeffizienten der jeweiligen Dosis-Wirkungskurve, die auf der Dauer der unterschiedlichen Kulturzeiten basiert, ergibt eine bestimmte dic-Frequenz nach Röntgenexposition drei Dosen, deren Konfidenzintervalle sich aber überlappen. Daraus kann gefolgert werden, dass eine Dosis-Wirkungskurve, etabliert nach 48 h Kulturdauer, auch im hohen Dosisbereich noch verlässliche Dosisabschätzungen erlaubt. Auch nach Neutronenexposition überlappen sich die Konfidenzintervalle der berechneten Dosen, so dass auch hier eine Empfehlung für die 48 h Kulturdauer ausgesprochen werden kann. Allerdings gelten diese Empfehlungen nur für die angewendeten Strahlungsarten, insbesondere Neutronen mit einem hohen LET könnten ein völlig anderes Aberrationsmuster induzieren. Dosisbestimmungen für eine biologische Dosimetrie sollten möglichst vergleichbar mit der zugrunde liegenden Dosis-Wirkungs-Kurve durchgeführt werden.

Nach simulierten Teilkörperbestrahlungen resultierten ab 3,0 Gy Röntgenbestrahlung bei allen drei Mischungsverhältnissen signifikante Unterschiede zwischen 48 h und 72 h, sowie zwischen 56 h und 72 h. Signifikante Unterschiede gab es ebenfalls nach Neutronenexposition zwischen den angewendeten Kulturzeiten, diese erfolgten hier aber unsystematisch. Die Verteilung der dic und cRing zeigte für beide Strahlenarten eine Überdispersion. Es kam in Abhängigkeit vom bestrahlten Volumen und der angewendeten Dosis zu teilweise drastischen Zellzyklusverzögerungen der bestrahlten Zellen: je kleiner das bestrahlte Volumen und je höher die Dosis, desto größer war der Selektionsvorteil der unbestrahlten Zellen. Eine Teilkörperexposition mit Röntgenstrahlung konnte aufgrund der Überdispersion deutlich von einer Ganzkörperexposition unterschieden werden. Nach Neutronenexposition erfolgte dagegen in beiden Fällen eine Überdispersion, so dass sich ein Unterschied zwischen Ganz- und Teilkörperbestrahlung anhand der quantitativen zytogenetischen Analyse nicht nachweisen ließ.