Autor: Jens Simon
Als der Physiker K. eines Morgens den Fahrstuhl betrat, um sich in sein Tieftemperaturlabor bringen zu lassen, registrierte zuerst sein Rückenmark – K.s Bewusstsein war noch in der Aufwachphase –, dass heute die Dinge anders lagen als gewöhnlich. K.s Arm streckte sich automatisch auf Hüfthöhe aus, der Zeigefinger seiner rechten Hand zielte auf die Stelle, auf die er jeden Morgen zielte: auf den Knopf für das Untergeschoss und … verharrte. Irgendein Spaßvogel musste sich einen Scherz erlaubt haben, denn statt der üblichen Etagenknöpfe zog sich ein matt leuchtendes, schmales Lichtband wie ein Streifen von der Kabinendecke bis zum Fußboden. „Willkommen und guten Morgen! Ich bin Ihr logarithmischer Fahrstuhl. Wohin darf ich Sie bringen?“ K.s Unterkiefer klappte, während die Fahrstuhltür sich mit einem satten Schmatzen hinter ihm schloss, nach unten; sein Gehirn setzte sich träge und etwas widerwillig in Bewegung. „Träume ich?“, dachte K. und kniff sich vorsichtshalber in die rechte Wange, um in die Wirklichkeit zurückzukommen. Aber die Szenerie blieb wie zuvor. „Ähem“, räusperte sich der Fahrstuhl, „ist Ihnen nicht wohl?“ „Nein, nein, ich bin nur … wie soll ich sagen, etwas verwirrt. Kann mich nicht erinnern, dass je ein Fahrstuhl mit mir gesprochen hätte.“ „Na, dann wird es ja höchste Zeit. Wohin darf ich Sie also bringen? Eher nach oben in die heißen Zonen oder eher nach unten in die Kälte?“ K. bemerkte jetzt mitten im Lichtband, etwa in Augenhöhe, einen blinkenden Fleck, auf dem bei jedem Aufblitzen die Zahl 294 zu erkennen war. „Wir befinden uns jetzt immer noch dort, wo Sie eingestiegen sind“, sagte der Fahrstuhl, „also bei der ganz gewöhnlichen Zimmertemperatur von 21 °C bzw. 294 Kelvin. Wohin darf es jetzt also, bitteschön, gehen?“ K. glaubte, eine gewisse Ungeduld in der Stimme des Fahrstuhls herausgehört zu haben, und sagte, um überhaupt etwas zu sagen: „Wie wär’s mit einem Abstecher zur Sonne?“ Kaum gesagt, ruckelte es kurz, der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung und der blinkende Fleck kletterte langsam und gleichmäßig nach oben. Wie um die zurückgelegten Etappen zu markieren, leuchtete etwa nach jeder handbreiten Strecke eine Zahl auf: 1000 – 10 000 – 100 000 – 1000 000, bis der Fleck – mittlerweile musste sich K. auf die Zehenspitzen stellen, um die Zahl lesen zu können – zur Ruhe kam und 15 000 000 anzeigte. „Wir haben unser Ziel erreicht“, sagte der Fahrstuhl, „wollen Sie aussteigen?“ „Oh!“ sagte K., der etwas bleich geworden war und unwillkürlich an seine Kollegen von der Plasmaabteilung denken musste, die immer nur mit nackten Atomkernen ohne schützende Hülle spielten. Seine eigenen Atome wollte K. schon gerne noch etwas länger zusammenhalten. „Ich glaube, das Chaos da draußen muss ich mir nicht ansehen. Ich liebe auch vielmehr die Ordnung – schließlich bin ich Tieftemperaturphysiker. Du weißt schon, Fahrstuhl, immer unterwegs zu absolut Null.“ Wieder ruckelte es kurz, der Fahrstuhl brummelte: „Wenn der Herr sich mal entscheiden könnte!“ und die Kabine glitt jetzt offensichtlich abwärts, denn auch der blinkende Fleck – 100 000 – 10 000 – 1000 – 100 – rutschte immer tiefer. Während sie so in aller Stille dahinfuhren – 10 – 1 – 0,1 – 0,01 – fühlte sich K. immer heimischer. Sie mussten sein Tieftemperaturlabor bei einem Mikrokelvin ja bald erreicht haben. Der Fleck blinkte – 0,000 01 – mittlerweile auf Kniehöhe und K. fasste in seine Hosentasche, um zu prüfen, ob er seinen Laborschlüssel auch dabei hatte. Jetzt – 0,000 001 – waren sie bei „seiner“ Temperatur, doch der Fleck sackte ungerührt tiefer – 0,000 0001 – und näherte sich K.s Knöchel. „He, Fahrstuhl! Ich wollte aussteigen!“ schrie K., langsam die Fassung verlierend. „Ich führe nur aus, was Sie gewünscht haben, verehrter Fahrgast“, sagte der Fahrstuhl ungerührt. „Sie wollten zu absolut Null. Eine echte Reise. Eine echte Herausforderung für einen logarithmischen Fahrstuhl.“ K. dämmerte, dass er einen Fehler gemacht hatte – diese logarithmische Fahrt würde nie enden. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Bevor er das Bewusstsein verlor, sah er aus dem Augenwinkel den Fleck im Fußboden verschwinden und dachte noch: „Absolut Null – das Unerreichbare.“
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