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„Molekül-Selfie“ enthüllt den Aufbruch einer chemischen Bindung

Flucht eines Protons aus einem Molekül beobachtet

21.10.2016

Wissenschaftlern des Institute of Photonic Sciences (Barcelona) ist es gelungen, die Position aller Atome eines Moleküls zu verfolgen, während der Aufbruch einer der chemischen Bindungen ein einzelnes Proton freisetzt. Hierzu wurde ein am Heidelberger Max-Planck-Institut für Kernphysik entwickeltes Reaktionsmikroskop verwendet. An den Forschungsarbeiten war unter anderem Prof. Dr. Joachim Ullrich beteiligt, ehemals Direktor am Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg  und mittlerweile Präsident der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt. Ullrich hat mit seiner damaligen Gruppe das Reaktionsmikroskop zum vollständigen Nachweis aller Fragmente für dieses Experiment mit aufgebaut und stand mit Rat und Tat bei der komplexen Auswertung der Daten zur Verfügung.  

Schematische Darstellung des Aufbruchs einer molekularen Bindung in Acetylen (C2H2). Grafik: ICFO/Scixel.

Man stelle sich vor, die einzelnen Atome eines Moleküls ließen sich während einer chemischen Reaktion beobachten: Wie sie sich umlagern, um eine neue Substanz zu bilden oder wie Bausteine der DNS sich bewegen und vervielfältigt werden. Diese Fähigkeit würde bisher unerreichte Einsichten bieten, um diese Prozesse besser zu verstehen und möglicherweise zu kontrollieren.

Die simple Idee, den Aufbruch oder die Umwandlung von Molekülen während einer chemischen Reaktion zu beobachten, war bisher unerreichbar, denn sie setzt voraus, alle Atome, die das Molekül bilden, zu verfolgen – und dies mit subatomarer räumlicher Auflösung innerhalb weniger Femtosekunden (10–15 s = ein Millionstel einer Milliardstel Sekunde). Daher klangen derartige „Schnappschüsse“ einer molekularen Reaktion mit der erforderlichen Präzision wie Science Fiction. Vor nunmehr genau 20 Jahren wurde die Idee geboren, die Elektronen des Moleküls selbst zu nutzen, um seine Struktur abzubilden: Man bringe dem Molekül bei – wie wir heute sagen würden – ein „Selfie“ von sich zu machen!

In einer jetzt bei Science publizierten Studie konnten Wissenschaftler des Institute of Photonic Sciences (ICFO) in Barcelona und des Heidelberger Max-Planck-Instituts für Kernphysik (MPIK) sowie weiterer Institutionen aus Deutschland, den Niederlanden, Dänemark und den USA einen entscheidenden Durchbruch vermelden. Dem Team gelang die Abbildung des Aufbruchs einer chemischen Bindung in Acetylen (C2H2) innerhalb von 9 Femtosekunden nachdem das Molekül ionisiert wurde. Die Forscher verfolgten sämtliche Atome in einem einzelnen Acetylen-Molekül mit einer räumlichen Präzision von nur 0,05 Ångström (deutlich weniger als ein Atomdurchmesser) mit einer zeitlichen Präzision von 0,6 Femtosekunden. Dabei konnten sie den Aufbruch einer bestimmten einzelnen Bindung des Moleküls auslösen und beobachten, wie ein Proton das Molekül verlässt. Nachdem gezeigt wurde, dass die erforderliche räumliche und zeitliche Auflösung erreicht wurde, um Schnappschüsse der molekularen Dynamik zu erhalten, möchte die Gruppe um Jens Biegert am ICFO diese als nächstes auf andere Moleküle wie Katalysatoren oder biologisch relevante Systeme anwenden.

Das Team in Barcelona entwickelte eine weltweit führende ultraschnelle Laserquelle für den mittleren Infrarot-Bereich und kombinierte diese mit einem Reaktionsmikroskop. Dieses erlaubt eine kinematisch vollständige Erfassung der dreidimensionalen Impulsverteilung der freigesetzten Elektronen und Ionen in Koinzidenz, d. h. es werden alle geladenen Bruchstücke des Moleküls gleichzeitig nachgewiesen und der Reaktion zugeordnet. Entwickelt und gebaut wurde das Reaktionsmikroskop am MPIK in der Gruppe um Robert Moshammer. Im Experiment am ICFO wird zunächst ein einzelnes Acetylen-Molekül mit einem kurzen Laserpuls räumlich ausgerichtet und dann mit einem zweiten ausreichend starken Laserpuls ionisiert. Das freigesetzte Elektron wird vom Laserfeld wieder zum Ursprungs-Molekül zurückgetrieben, wobei es an diesem streut – alles innerhalb von 9 Femtosekunden. Aufgrund seiner quantenmechanischen Welleneigenschaft bildet das Elektron bei diesem Streuprozess das gesamte Molekül ab und erlaubt so eine Rekonstruktion von dessen Struktur.

Mittels einer geschickten Analyse der Daten konnten die Physiker ferner zeigen, dass die Orientierung des Moleküls relativ zur Richtung des elektrischen Feldes des Lasers ganz grundlegend die Dynamik der Reaktion ändert. Bei paralleler Ausrichtung wurde eine Vibration des Moleküls entlang der Feldrichtung beobachtet, während bei senkrechter Ausrichtung eine der C–H-Bindungen aufbrach. In dem Experiment wurde der Aufbruch der Bindung erstmals visualisiert und beobachtet, wie das Proton das C2H22+-Ion verlässt. Zum Erfolg hat auch die großartige Zusammenarbeit zwischen Experimentatoren und Theoretikern, Atomphysikern und Quantenchemikern des ICFO und MPIK, der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, der Kansas State University, des Center for Free Electron Laser Science (DESY/CUI) sowie der Universitäten Jena, Kassel, Aarhus und Leiden beigetragen.