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Messungen der Neutronenproduktion in Abschirmmaterialien für den Strahlenschutz im Weltraum

20.12.2019

Die schädlichen Auswirkungen galaktisch-kosmischer Strahlung auf die Gesundheit eines Astronauten stellen für bemannte Raumfahrt-Missionen einen limitierenden Faktor dar. Eines der Themen, mit denen sich die Weltraumforschung beschäftigt, ist das Fehlen experimenteller Daten zur Produktion von Neutronen und leichten Ionen in dicken Abschirmmaterialien durch diese Strahlung. Qualitativ hochwertige experimentelle Daten sind für die Entwicklung der theoretischen Modelle und der in der Strahlenrisikobewertung verwendeten Simulationscodes erforderlich. Der Fachbereich 6.4 Neutronenstrahlung der PTB hat kürzlich eine Forschungskooperation mit der Abteilung Biophysik der GSI in Darmstadt und dem TIFPA-INFN (Trento) begonnen. Ziel des Kooperationsprojektes ist es, eine neuartige experimentelle Methode zur Charakterisierung des sekundären Strahlungsfeldes hinter dicken Abschirmungen zu entwickeln. Die Qualität und Zusammensetzung des Strahlungsfeldes hinter dicken Abschirmmaterialien wird mit einer Kombination von vier komplementären Detektorsystemen bestimmt, von denen eines das PTB-Bonnerkugel-Spektrometer NEMUS ist.

Die schädlichen Auswirkungen kosmischer Strahlung auf die Gesundheit eines Astronauten stellen für bemannte Raumfahrt-Missionen einen limitierenden Faktor dar. Die damit verbundenen Risiken wurden von den nationalen Raumfahrtagenturen erkannt. Infolgedessen werden komplexe modellbasierte Strategien zur Risikominderung entwickelt. Diese Risikomodelle basieren auf dem Zusammenspiel von grundlegenden physikalischen und radiobiologischen Modellen. In beiden Bereichen bestehen noch erhebliche Wissenslücken, die durch die Erhebung hochwertiger experimenteller Daten, die Entwicklung entsprechender theoretischer Modelle und die Validierung und Verbesserung der in der Strahlenrisikobewertung verwendeten Simulationscodes behoben werden sollen.

Eine signifikante Lücke ist der Mangel an experimentellen Daten über die Produktion von Neutronen und leichten Ionen in dicken Abschirmungen durch die kosmische Strahlung. Neutronen stellen aufgrund ihrer hohen mittleren freien Weglänge und der hohen biologischen Wirksamkeit eine erhebliche Bedrohung für die Gesundheit der Astronauten dar. Neutronen werden in allen Phasen des Kernfragmentierungsprozesses erzeugt. Ihre Häufigkeit in Verbindung mit ihrer geringen Interaktionsrate macht sie zu einem der Hauptthemen bei der Entwicklung von passiven Abschirmungen. Die Frage der Neutronenproduktion in dicken Abschirmungen ist deshalb bei Designstudien von planetarischen Lebensräumen, sogenannten Habitaten von Bedeutung. Aktuelle Studien über die wichtigsten Teilchentransportprogramme, die in der Weltraumforschung verwendet werden, deuten darauf hin, dass die Produktion von Neutronen und leichten Ionen in dicken Abschirmungen immer noch erhebliche Diskrepanzen zwischen den Codes verursacht. Der Grund dafür ist die begrenzte Menge an vorhandenen Daten zu doppelt-differentiellen Wirkungsquerschnitts, die die Streuung unter großen Winkeln beschreiben, und die Unsicherheiten in den verwendeten kernphysikalischen Modellen, die den Aufbruch und die Abregung von Projektil und Target beschreiben.

Der Fachbereich 6.4 „Neutronenstrahlung“ der PTB hat kürzlich eine Forschungskooperation mit der Abteilung Biophysik des GSI Helmholtzzentrums für Schwerionenforschung Darmstadt und dem Trento Institute for Fundamental Physics and Applications (TIFPA-INFN) begonnen. Ziel des Kooperationsprojektes ist es, eine neuartige experimentelle Methode zur Charakterisierung des sekundären Strahlungsfeldes hinter einer dicken Abschirmung zu entwickeln. Die galaktische kosmische Strahlung wird durch einen hochenergetischen Fe-56-Ionenstrahl (1 GeV pro Nukleon) des Schwerionensynchrotrons SIS18 an der GSI approximiert, und die Abschirmung wird durch ein massives Target aus Aluminium simuliert. Die durch Kernreaktionen entstehenden Teilchen des sekundären Strahlungsfeldes werden in alle Richtungen emittiert. Die Qualität und Zusammensetzung der sekundären Strahlung hinter der Abschirmung wird unter bestimmten Winkeln relativ zur Strahlachse mit einem Aufbau bestehend aus vier komplementären Detektorsystemen bestimmt: Bonnerkugel-Spektrometer NEMUS der PTB, Flugzeitmethode mit Szintillator-Teleskopen der GSI, Neutronendosimetern der GSI und gewebeäquivalentem Proportionalzähler von TIFPA-INFN. Die Kombination der Ergebnisse aus den einzelnen Detektoren wird es ermöglichen, die Energiespektren und Winkelverteilungen der hochenergetischen Sekundärneutronen, Protonen und leichten Ionen zu bestimmen und Rückschlüsse auf die zu erwartenden biologisch relevanten Effekte des sekundären Feldes zu ziehen. Die mit diesem Multi-Detektor-Ansatz erzielten Ergebnisse werden für das Benchmarking von Teilchentransportprogrammen verwendet.

Das Projekt wurde im Rahmen des Programms AO-2017-IBER (Announcement of Opportunity for Investigations into Biological Effects of Radiation using the GSI accelerator facility) der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) ausgewählt und erhielt die benötigte Strahlzeit bei der GSI. Nach einem ersten Testlauf im April 2019 kann die neue Messmethode als sehr aussichtsreich bewertet werden. Die volle Messkampagne ist für März 2020 geplant. Nach den Pilotexperimenten mit Standard-Abschirmmaterialien wie Aluminium und Polyethylen können mit diesem Verfahren in Zukunft neuere hochleistungsfähige Abschirmmaterialien untersucht werden.

Abb.: Experimenteller Aufbau in der Hochenergie-Bestrahlungsanlage Cave A an der GSI während der Teststrahlzeit im April 2019. Der hochenergetische Ionenstrahl kommt von der rechten Seite und trifft auf das Aluminium-Target (silberner Zylinderblock) auf der rechten Seite des Fotos, markiert durch einen blauen Pfeil. Die Partikel des sekundären Strahlungsfeldes werden in alle Richtungen emittiert. Der rote Pfeil markiert die Bonnerkugel (weiße Kugel) des PTB-Neutronenspektrometers NEMUS, die unter einem Winkel von 15° zur Strahlachse liegt. Die grünen Pfeile markieren die sphärischen GSI Neutronendosimeter (schwarze Kugeln) unter den Winkeln von 15° und 40° zur Strahlachse. Die Ebene des Ionenstrahls befindet sich 2 m über dem Boden.