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Charakterisierung viskoelastischer Materialien mit Hilfe von N-Parameter-Modellen

05.07.2007

Für eine Reihe experimenteller und numerischer Untersuchungen an bauakustischen Modellprüfständen wurden detaillierte Daten über die mechanischen Eigenschaften der verwendeten Materialien benötigt. Zur Ermittlung solcher Materialeigenschaften, wie dem Elastizitätsmodul oder der Materialdämpfung, gibt es eine Reihe von etablierten – teils genormten Messverfahren. Diese liefern jedoch üblicherweise nur Einzahlwerte bei fester Frequenz. Viele Materialien können mit einem linearen viskoelastischen Werkstoffmodell beschrieben werden. In einer Kombination aus Messung und numerischer Analyse lassen sich die viskoelastischen Parameter eines Stoffes identifizieren. Dann können die komplexen mechanischen Eigenschaften mit einer handvoll reeller Zahlen in einem weiten Frequenzbereich beschrieben werden. Die Parameter von Silikon, Acrylglas und Aluminium wurden identifiziert.

Die Ermittlung von Materialeigenschaften, wie dem Elastizitäts- oder Schermodul, der Poissonzahl und der Materialdämpfung, ist eine immer wiederkehrende Aufgabe. Die meisten klassischen Verfahren, wie sie z.B. in den Normen DIN 53513, DIN 29052-1 oder DIN EN ISO 6721 festgehalten sind, gestatten nur die Bestimmung der Materialeigenschaften bei diskreten Frequenzen, nämlich der jeweiligen Resonanz- oder Anregungsfrequenz. Um ein ausreichend geschlossenes Spektrum zu erhalten sind viele Einzelmessungen an verschiedenen Proben nötig. Auch wenn komplexe Materialeigenschaften benötigt werden, wie zum Beispiel für numerische Rechnungen, erweisen sich klassische Verfahren oft als unzulänglich.

Alternativ kann ein Verfahren aus dem Maschinenbau zur Beschreibung von Werkstoffen verwendet werden. Dem Werkstoff wird dabei viskoelastisches Materialverhalten zugrunde gelegt, was für die meisten Stoffe zutrifft. Unter Verwendung dieses Wissens kann ein Material mit einer endlichen Zahl von Parametern beschrieben werden, daher die Bezeichnung als N-Parameter-Modell eines Werkstoffes. Für den bauakustischen Frequenzbereich genügen oft schon wenige Parameter für eine ausreichende Beschreibung. Aus diesen Parametern können mit einigen einfachen Formeln komplexe Moduln, Poissonzahl und Materialdämpfung für beliebige Frequenzen im Gültigkeitsbereich des Modells berechnet werden.

Die grundlegende Vorgehensweise ist dabei die, dass eine Materialprobe derart in einen Messaufbau eingebracht wird, dass die Bewegungsgleichungen und Randbedingungen möglichst genau bekannt sind. Gemessen wird eine Systemantwort auf der Probe, die den interessierenden Frequenzbereich abdeckt. Auf einem Rechner wird ein analytisches oder FEM-Modell des Aufbaus implementiert. Der Werkstoff wird dabei durch die zu ermittelnden Parameter beschrieben. Wird die Simulation mit Startwerten für die Parameter gefüttert, so kann die gemessene Systemantwort simuliert werden. Nach einem Vergleich mit der Messung werden die Parameter korrigiert und die Systemantwort erneut simuliert. In einer Optimierungsschleife werden die Parameter solange angepasst, bis sich simulierte und gemessene Antwort zufriedenstellend decken.

Für bauakustische Modellmessungen wurden mehrere Materialien mit diesem Verfahren untersucht. Um den Elastizitätsmodul von Silikon zu bestimmen, wurde eine in Zylinderform gegossene Probe senkrecht an einen Shaker gehängt (Bild 1). Dieser regt die Probe zu Dehnschwingungen an. Mit einer am Fuß der Probe angeklebten Masse verhält sich der Aufbau wie ein Masse-Feder-System. Zwei Beschleunigungsaufnehmer wurden oberhalb und unterhalb der Silikonprobe montiert. Bei angeregter Probe wurden die Zeitsignale der Aufnehmer aufgezeichnet, Fourier-transformiert und durch Verhältnisbildung in eine komplexe Systemantwort umgerechnet. Diese beschreibt das Verhalten der Probe zwischen den beiden Messpunkten. An diese gemessene Funktion wurde die aus dem analytischen Modell folgende Systemantwort optimal angepasst. Identifiziert wurden sechs Parameter, die zwischen 10 Hz und 550 Hz das Dehnverhalten von Silikon gut beschreiben.

Ähnlich wurden Aluminium und Acrylglas charakterisiert. Hier wurden jedoch Probestäbe zu Biegeschwingungen angeregt. Im Falle des Aluminiums war der verwendete Stab sehr dünn, so dass Scherbewegungen ausgeschlossen werden konnten und sich die Simulation mit einem einfachen Euler-Bernoulli-Balken durchführen ließ. Der verwendete Acrylstab hingegen war relativ dick. Schubverformungen nehmen dann Einfluss auf das Schwingungsverhalten. Eine adäquate Beschreibung als Timoshenko-Balken ist um einiges aufwendiger, als im Falle des Aluminiums. Jedoch bietet sich hier die Möglichkeit neben dem Elastizitäts- auch den Schubmodul zu bestimmen. Die Identifizierung liefert 26 Parameter des Werkstoffes für Frequenzen zwischen 3 Hz und 11 kHz. Damit sind in diesem Frequenzbereich die mechanischen Eigenschaften des isotropen Materials Acrylglas durch ein einziges Experiment vollständig bestimmt: Elastizitäts-, Schub-, Kompressionsmodul, Materialdämpfung und auch die Poissonzahl können frequenzabhängig aus den 26 Parametern mit Hilfe einiger einfacher Formeln berechnet werden.

Die Unsicherheit dieses Verfahrens liegt typischerweise in der gleichen Größenordnung wie bei den klassischen Verfahren. Genaue Angaben zur Unsicherheit sind jedoch schwierig zu errechnen aufgrund des komplexen Identifizierungsprozesses.

Die Charakterisierung von Materialien mit Hilfe der N-Parameter-Methode scheint zunächst aufwendiger als mit den herkömmlichen Methoden. Insbesondere der numerische Part der Parameteridentifizierung erfordert Zeit und Erfahrung. Sind nur einfache Kennwerte gefragt, so sind etablierte Methoden einfacher und schneller. Sind jedoch frequenzabhängige und komplexe Materialwerte erforderlich, so ist die N-Parameter-Methode überlegen.

Zylindrische Silikonprobe im Experimentieraufbau. Die Probe ist nach unten hängend am Shaker befestigt, der sie zu longitudinalen Schwingungen anregt.

Bild 1: Zylindrische Silikonprobe im Experimentieraufbau. Die Probe ist nach unten hängend am Shaker befestigt, der sie zu longitudinalen Schwingungen anregt.

Ansprechpartner:

Christoph Kling, FB 1.7, AG 1.71, Christoph.Kling@ptb.de