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Einfluss einer Motorrad-Schräglage auf Geschwindigkeitsmessungen mit Videonachfahrsystemen

26.10.2012

Bei der Verwendung von Videokrädern für die Messung der Geschwindigkeit von Fahrzeugen ergibt sich der Schräglageneffekt, eine von der Schräglage abhängige Verringerung des Abrollumfangs. Um Benachteiligungen von Betroffenen auszuschließen, sind daher Einschränkungen in der Anwendung erforderlich. Die PTB hat jetzt detaillierte Experimente zum Schräglageneffekt durchgeführt und ausgehend von den Ergebnissen ein Verfahren entwickelt, den Effekt ohne zusätzliche Sensoren zu kompensieren.

Motorradfahrer sind im Straßenverkehr weit überdurchschnittlich stark gefährdet, insbesondere bei Überschreitungen der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf Landstraßen. Neben technischen Verbesserungen der Motorräder und der Straßen-Infrastruktur sind auch amtliche Geschwindigkeitsmessungen für die Verkehrsüberwachung eine wichtige Möglichkeit, die Sicherheit der Motorradfahrer zu verbessern. Als besonders effektiv wird hier aus verschiedenen Gründen die Geschwindigkeitsmessung mit Videonachfahrsystemen angesehen, die auf Polizei-Krädern installiert sind. Bei diesen Geräten wird bei einem Nachfahren aus der Geschwindigkeit des Polizei-Krades auf die Geschwindigkeit des vorausfahrenden Motorrads geschlossen. Bei diesem Messprinzip ist zu beachten, dass sich bei einer Schräglage – die sich auf kurvigen Straßen zwangsläufig ergibt, siehe Bild 1 - der tatsächliche Abrollumfang des Polizei-Krades systematisch verringert. Dies führt dazu, dass der Geschwindigkeitsmesswert - zuungunsten des vorausfahrenden Motorradfahrers – größer ist als die tatsächliche Geschwindigkeit des Krades. Bei größeren Schräglagen kann auch eine Überschreitung der in der Eichordnung festgelegten Verkehrsfehlergrenzen von 5 km/h bzw. 5 % (bei Messwerten bis bzw. über 100 km/h) nicht mehr ausgeschlossen werden. Da dieser Effekt die Einsatzmöglichkeiten, insbesondere auf kurvigen Straßen in den Bergen, erheblich einschränkt, ist die PTB von Seiten der Polizei gebeten worden, Lösungsmöglichkeiten mit technischen und/oder organisatorischen Maßnahmen zu erarbeiten.

Bild 1: Polizei-Krad vom Typ BMW R 1200 RT mit Videonachfahrsystem bei einer Kreisfahrt mit entsprechender Schräglage bei Experimenten in Aldenhoven (Foto mit freundlicher Genehmigung des Landesamtes für Zentrale Polizeiliche Dienste NRW)

Theoretische Beschreibung des Schräglageneffekts

Zumindest näherungsweise lässt sich der Schräglageneffekt auch theoretisch analysieren. Mit der Annahme eines kreis- bzw. halbkreisförmigen Querschnitts des Motorradreifens kommt man bei Vernachlässigung aller elastischen Verformungen und aller dynamischen Effekte zu folgenden Ergebnissen:

  • Die Verfälschung der Strecken- bzw. Geschwindigkeitsmessung ist geschwindigkeitsunabhängig, sie hängt nur vom Rollwinkel α ab.
  • Der Schräglageneffekt ist stark nichtlinear, die Verfälschung der Messwerte steigt entsprechend einem Faktor (1 - cos α) in erster Näherung für relativ kleine Winkel quadratisch mit dem Rollwinkel an. Für kleine Schräglagen sind die Verfälschungen daher vernachlässigbar.
  • Der Schräglageneffekt ist proportional zu einem reifenabhängigen Vorfaktor r/Ro (r Krümmungsradius der Reifenkontur, Ro Radius des gesamten Rades), er ist daher für das Hinterrad (r ca. 90 mm, Ro ca. 314,9 mm) etwa um einen Faktor 1,4 größer als für das Vorderrad (r ca. 60 mm, Ro ca. 299,9 mm).
  • Die Winkelabhängigkeit ergibt sich aus dem Faktor (1 - cos α), sie ist somit für Vorder- und Hinterrad identisch.
  • Für starke Schräglagen ab ca. 30 Grad sind Verfälschungen von mehr als 5 % zu erwarten.

Fahrversuche zur experimentellen Untersuchung des Schräglageneffektes

Der zuverlässigste Weg zu belastbaren Aussagen über die tatsächliche Größe des Schräglageneffektes bestand aus Sicht der PTB in gezielten Fahrversuchen mit einem Polizei-Krad, das mit einem Videonachfahrsystem ausgestattet ist. Bei diesen Fahrversuchen wurde bei möglichst definierter Kurvenfahrt bzw. Schräglage die vom Videonachfahrsystem ermittelte Strecke mit der tatsächlich zurückgelegten Strecke verglichen. Da es mit der erforderlichen Genauigkeit nicht möglich ist, ein Motorrad in Schräglage eine vorgegebene Strecke abfahren zu lassen, wurde die tatsächlich zurückgelegte Strecke mit einem GPS-basierten Inertialnavigations-System (im Folgenden GPS/INS-Gerät genannt) als Referenz gemessen. Der Vergleich wurde dann anhand der mit beiden Geräten völlig unabhängig ermittelten Durchschnittsgeschwindigkeit durchgeführt. Die Vergleichsmessungen erfolgten in zwei Messkampagnen in enger Kooperation mit der Polizei und den Eichbehörden aus NRW, denen ein großer Dank für ihre Beiträge gilt.

Durchführung der Fahrversuche und experimentelle Ergebnisse

Um reproduzierbare und definierte Schrägfahrten zu realisieren, führte der Fahrer mit dem in Bild 1 gezeigten Video-Krad Kreisfahrten mit verschiedenen Radien (50 m und 100 m) und Geschwindigkeiten bis 90 km/h durch. Hierfür stand für zwei Messkampagnen die Dynamikfläche des Aldenhoven Testing Center zur Verfügung, die wegen ihres Gesamtdurchmessers von 220 m und der Ebenheit der Fläche für unsere Untersuchungen sehr gut geeignet ist. Auf der Fläche wurden die entsprechenden Kreise für den Fahrer mit Verkehrsleitkegeln markiert, die Radien wurden mit einem geeichten Rollbandmaß kontrolliert. Um sicherzustellen, dass die gemessenen Rollwinkel tatsächlich Schräglagenwinkel bezüglich der Fahrbahn darstellen, wurde die Neigung der Testfläche ermittelt. Die mit einem digitalen Neigungsmesser gemessenen Werte lagen im Bereich von 0,0° bis 0,6° (stets mit Neigung zur Mitte), die spezifizierte Messunsicherheit des Neigungsmessers beträgt nur ±0,05°. Auf weitere Korrekturen konnte daher verzichtet werden. Um möglichst reproduzier-bare Ergebnisse zu erhalten, wurde für jeden Kreisumfang an einer Stelle mit Kreide eine Markierung angebracht, an der der Fahrer bei fliegendem Start die ProVida-Messung startete und stoppte. Durch entsprechende, von der PTB entwickelte Elektronik war dafür gesorgt, dass dabei synchron das GPS/INS-Gerät ausgelöst wurde. Bei dem kleineren Radius wurden für jede Fahrt zwei Kreisumläufe verwendet, so dass sich für alle Fahrten jeweils eine Gesamtstrecke von etwas mehr als 600 m ergab. Um Einflüsse durch mögliche Unsymmetrien des Motorrades und des GPS/INS-Gerätes auszuschließen, wurden entsprechende Fahrten jeweils in beiden Fahrtrichtungen durchgeführt, d.h. mit Schräglage nach links und rechts. Während jeder Kreisfahrt bemühte sich der für Überwachungsaufgaben geschulte Fahrer vor allem, die vorgegebene Geschwindigkeit möglichst konstant zu halten, so dass sich während der gesamten Kreisfahrt jeweils eine weitgehend einheitliche Schräglage ergab. Bei beiden Radien wurde die vorgegebene Geschwindigkeit in Stufen so lange erhöht, bis sich jeweils eine Schräglage von ca. 42 Grad ergab, was aufgrund der Geometrie der Video-Kräder der Polizei schon zu einem Aufsetzen der Fußraste führte und somit als obere Abschätzung für die in der Praxis relevante Situation verwendet werden kann. Dieser Winkel wurde bei den beiden verschiedenen Kurvenradien bei deutlich unterschiedlichen Geschwindigkeiten erreicht (70 km/h bzw. 90 km/h). Um die Unterschiede zwischen Vorderrad- und Hinterradabgriff zu analysieren, wurden sämtliche o.a. Versuche zunächst mit Hinterradabgriff durchgeführt und unmittelbar anschließend – nach der Umrüstung des Videonachfahrsystems – mit Vorderradabgriff wiederholt.

Die wichtigsten Ergebnisse der Experimente zum Schräglageneffekt waren:

  • Die Verfälschung der Strecken- bzw. Geschwindigkeitsmessung hängt nicht von der Geschwindigkeit oder dem Kurvenradius ab, sondern vom Rollwinkel α.
  • Der Schräglageneffekt ist stark nichtlinear, die Verfälschung der Messwerte steigt eher quadratisch mit dem Rollwinkel an. Für kleine Schräglagen sind die Verfälschungen daher vernachlässigbar.
  • Die Winkelabhängigkeit des Effektes ist bei Vorder- und Hinterrad ähnlich, der Effekt ist beim Hinterrad erwartungsgemäß deutlich größer als beim Vorderrad.
  • Für starke Schräglagen (bei ca. 40 Grad) treten beim Hinterrad Verfälschungen von mehr als 8 % auf, beim Vorderrad sind die maximalen Verfälschungen kleiner als 4 %.
  • Der Effekt änderte sich durch einen Reifenwechsel nicht, signifikante Unterschiede zwischen zwei verschiedenen Hinterreifen haben sich nicht ergeben.

 

Die Messergebnisse sind somit zumindest qualitativ eine Bestätigung der oben erläuterten, stark vereinfachten Theorie.

Zusätzlich wurde das Testgelände in Aldenhoven auch für einige Geradeausfahrten mit hohen Geschwindigkeiten (bis zu 160 km/h) genutzt, um mit dem präparierten Motorrad den Einfluss der Geschwindigkeit auf den Abrollumfang zu erfassen. Auch dabei ergab sich nur eine relativ geringe Geschwindigkeitsabhängigkeit, die Abweichungen betragen im Einzelfall ca. 1 %, liegen meist jedoch im Promillebereich.

Lösungsansätze und Ausblick

Die von uns erzielten Messergebnisse legen nahe, dass sich die absolute Größe des Effektes reduzieren lässt, indem anstelle des Hinterrades das Vorderrad abgetastet wird. Auch mit dieser Maßnahme werden aber die Fehlergrenzen bei Fahrten mit Schräglage nicht eingehalten, so dass weitere Analysen unerlässlich waren. Im Vordergrund stand dabei aber weniger das vollständige quantitative Verständnis des Schräglageneffekts als die Suche nach für die Polizei praktikablen Lösungen zur Einhaltung der Fehlergrenzen trotz des Schräglageneffekts.

Es stellt sich zunächst die Frage, ob bzw. inwieweit sich die Ergebnisse anhand der theoretischen Überlegungen auch quantitativ erklären lassen. Das Bild 2 zeigt für das Hinter- und das Vorderrad die Messwerte für die Abweichungen und gefittete Kurven mit dem charakteristischen (1 - cos α)-Verlauf. Beim Hinterrad ergibt sich eine überraschend gute Übereinstimmung mit dem Verlauf bei der naheliegenden Wahl des Vorfaktors r/Ro, die verbleibenden Abweichungen zwischen der einfachen Theorie und den Messergebnissen betragen bei maximaler Schräglage nur etwa 1,5 % bzw. 0,5 %. Auch beim Vorderrad ergibt sich eine recht gute Übereinstimmung, die Unterschiede betragen hier bei maximaler Schräglage etwa 1 %.

Bild 2: Messergebnisse für den Schräglageneffekt mit Ausgleichspolynomen bei Vorder- und Hinterrad und anhand der Differenz der Ausgleichspolynome berechnete Korrektur des Effektes

Ausgehend von den theoretischen und experimentellen Ergebnissen möchten wir einen für Anwender und Hersteller sehr attraktiveren Ansatz für eine Berücksichtigung des Schräglageneffekts zur Diskussion stellen. Dieser Ansatz basiert auf dem theoretisch erwarteten und experimentell bestätigten Befund, dass die Ergebnisse bei Vorder- und Hinterradabgriff bezüglich der Winkelabhängigkeit identisch sind (Faktor (1 - cos α)), sie sich aber nur durch den Vorfaktor r/Ro unterscheiden, der sich aus den unterschiedlichen Reifenabmessungen ergibt. Anhand der Reifendaten erwartet man, dass der Schräglageneffekt beim Hinterrad um einen Faktor 1,43 größer ist als beim Vorderrad. Bei den Messergebnissen erkennt man unmittelbar, dass der Effekt beim Hinterrad über den gesamten Bereich des Rollwinkels grob doppelt so groß ist wie der Effekt beim Vorderrad. Eine detailliertere Analyse der Messdaten zeigt, dass der Effekt beim Hinterrad sehr gut dem 2,2-fachen des Effektes beim Vorderrad entspricht. Wir gehen aufgrund der Übereinstimmung des grundlegenden Zusammenhangs zwischen Theorie und Experiment davon aus, dass es sich hierbei um eine weitgehend allgemeingültige Aussage handelt. Dies führte zu der Idee, für das Videonachfahrsystem das Vorder- und das Hinterrad zu erfassen, d.h. zwei Wegsensoren zu verwenden, und gezielt die Differenz der Informationen auszuwerten. Zieht man nämlich von dem Verlauf des Hinterrads das λ-fache der Differenz der beiden Verläufe ab, so erhält man wieder einen Verlauf mit dem Faktor (1 - cos α). Bei geeigneter Wahl von λ erhält man so einen Messwert der Geschwindigkeit, bei dem der Schräglageneffekt vollständig kompensiert ist. Die o.a. Theorie legt hierzu ausgehend von dem Faktor 1,43 ein λ von ca. 3,3 nahe.

Bei unseren Experimenten ließ sich mit dem Videonachfahrsystem bei einer Messfahrt jeweils nur entweder das Vorder- oder das Hinterrad erfassen. Uns stehen aus diesen Experimenten daher keine Messergebnisse mit den Daten beider Räder bei der gleichen Fahrt bzw. beim identisch gleichen Rollwinkel zur Verfügung, so dass wir aus den Messergebnissen direkt keine reale Differenz bilden können. Das Potential dieser Idee kann dennoch anhand von Bild 2 veranschaulicht werden. Wir haben zu diesem Zweck aus den Messdaten der beiden Räder jeweils eine Ausgleichsparabel (ohne Absolutglied) berechnet. Zieht man nun vom Verlauf für das Hinterrad das λ-fache der Differenz der beiden Verläufe ab, so erhält man wieder eine Parabel. Bei geeigneter Wahl von λ lässt sich auch hier der Schräglageneffekt vollständig kompensieren. Um die Kompensation für große Schräglagen bzw. Rollwinkel zu optimieren, ergibt sich ausgehend von den experimentellen Daten bei größeren Schräglagen ein λ von ca. 1,9. Die aus den experimentellen Daten abgeleitete Parabel ist im Bild rot als Korrektur des Schräglageneffektes eingetragen. Man erkennt, dass der so korrigierte Verlauf für alle Rollwinkel deutlich unter 0,2% liegt. Dies ist ein für die Hersteller bzw. Anwender der Geräte sehr vielversprechendes Ergebnis. Bei einer konkreten Messung mit einem Videonachfahrsystem, das beide Räder erfasst, könnte für diese Messung ganz entsprechend vorgegangen werden. Zunächst müsste das Gerät für beide Räder jeweils einen Geschwindigkeitsmesswert berechnen. Anschließend wäre von dem vom Hinterrad abgeleiteten Messwert das 1,9-fache der Differenz der beiden Messwerte abzuziehen. Die so berechnete Differenz müsste dann dem um den Schräglageneffekt korrigierten Wert entsprechen. Eine Messung des Rollwinkels, und das ist der entscheidende Vorteil dieser Methode, ist hierzu nicht erforderlich.

Literatur:

[1]  Grohne, H.; Jäger, F.; Märtens, F.: "Einfluss einer Motorrad-Schräglage auf polizeiliche Geschwindigkeitsmessungen mit Videonachfahrsystemen", Polizei Verkehr Technik, 03 (Mai/Juni) 2012, S. 131-134 (Teil 1) und 04 (Juli/ August) 2012, S. 154-157 (Teil 2)

Ansprechpartner:

Frank Märtens, FB 1.3, AG 1.31, E-Mail: frank.maertens@ptb.de