Logo der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt

Das Kilogramm

Der 20. Mai 2019 ist DER TAG! Der Tag, den die Metrologie, die Wissenschaft, jeder und jede sich für hochgenaues Messen begeisternde – hier auf der Erde und im gesamten Universum – mit kaum auszuhaltender Spannung erwartet, ach was, herbeigesehnt haben! Die Neuerungen für die Definitionen der Basis des Internationalen Einheitensystems sind in Kraft getreten! Eine Revolution in der Welt der Messens!! Und Sie haben nichts gemerkt?

Super, dann hat ja alles funktioniert. Nicht weil diese Änderung im Geheimen stattfinden sollte (sonst würden wir ja nicht hier davon schreiben…), sondern weil diese grundlegenden Veränderungen keine Störungen für unser Messen im Alltag verursachen sollen. Die vermutlich radikalste Veränderung erfährt unsere Einheit des Monats Mai: das Kilogramm!

 

Le roi est mort! Vive le roi!

Dieser Satz symbolisierte in Frankreich für lange Zeit den Fortbestand der Monarchie, über den Tod des aktuellen Königs hinaus, denn die Krone ging direkt auf seinen Nachfolger über. Nicht so jedoch im Falle Louis XVI. Seine Regentschaft endete unter der Guillotine und mit ihm auch die Monarchie in Frankreich, als eine Auswirkung der Französischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts.

Was hat das nun mit dem Kilogramm zu tun? Nun, eine andere Auswirkung der Französischen Revolution waren die Ursprünge unseres heutigen Internationalen Einheitensystems, weltweit abgekürzt als SI (Système International d’unités). Im Geiste der "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" sollte auch das Messen für alle gleich und unabhängig werden von königlichen Vorgaben. Denn im 18. Jahrhundert waren Einheiten wie die Masse oder Länge von Königreich zu Königreich und Herzogtum zu Herzogtum unterschiedlich definiert. Oft war die Armlänge des Königs oder Herzogs im wahrsten Sinne des Wortes maßgebend für die Einheit der Länge.

Im Jahr 1789 forderten die Cahiers de Doléances, eine Art Sammlung der Wünsche des französischen Volkes, die Schaffung eines universalen Systems des Messen als Abkehr von den willkürlichen, feudalherrschaftlichen Maßvorgaben. Als erstes neues Maß wurde 1791 der Meter als Einheit der Länge definiert. Aus dem Meter leiteten sich die Einheiten für Fläche und Volumen ab – Quadratmeter, Kubikmeter, Liter. Die Definition für das Kilogramm folgte 1799 und der erste Prototyp für die Masse wurde gefertigt, ein kleiner Zylinder aus Platin. Im gleichen Jahr wurde in Frankreich das metrische Einheitensystem per Gesetz als das verpflichtend gültige System festgelegt.

Im Laufe des nächsten Jahrhunderts verbreitete sich die Idee des einheitlichen, metrischen Einheitensystem weltweit. Im Jahr 1875 schlossen sich 17 Staaten zur sogenannten Meterkonvention zusammen, mit dem Ziel ein weltweit einheitliches System des Messens zu gewährleisten. Delegierte der Mitgliedsstaaten treffen sich regelmäßig bei der sogenannten Generalkonferenz für Maß und Gewicht (CGPM, Conférence Générale des Poids et Mesures) um die Weiterentwicklung des Einheitensystems zu diskutieren und Neuerungen zu beschließen.

Zur ersten CGPM, im Jahre 1889, wurde ein neuer Prototyp für das Kilogramm geschaffen. Dieser hat ebenfalls die Form eines Zylinders, ist allerdings aus einer Legierung von Platin und Iridium gefertigt, die stabiler ist als reines Platin. Per Definition wurde durch die Delegierten der 1. CGPM festgelegt: „Dieser Prototyp gilt fortan als Masseneinheit.“ Weil es ein so besonders Stück Metall ist, wurde es nicht nur als „Internationaler Kilogrammprototyp“ bezeichnet, sondern bekam auch einen eigenen Namen: Le grand k. Oder wie wir in Deutschland sagen: Das Urkilogramm.

Das Urkilogramm, geschützt unter drei Glasglocken.
Das Urkilogramm, geschützt unter drei Glasglocken.

Dieses unscheinbare Objekt, sicher verwahrt in einem Tresor in einem kleinen Ort bei Paris, war für 130 Jahre, von 1889 bis 2019, die Referenz für jegliche Massenmessung auf der Welt. Sie werden sich fragen, warum unscheinbar? Platin ist ein sehr schweres Element, und so misst das Urkilogramm nur 39 mm im Durchmesser und 39 mm in der Höhe - also eigentlich sehr klein und vermeintlich unscheinbar!

Das Kilogramm ist tot, es lebe das Kilogramm!

Ab dem 20. Mai 2019 ist dieses Artefakt nun nicht mehr die Referenz der weltweiten Massenmessung. Es wird ersetzt durch einen Buchstaben. Irgendeinen Buchstaben? Nein! Es ist h, die wichtigste Naturkonstante der Quantenphysik. Sie trägt den Namen ihres Entdeckers: Es ist die Planck-Konstante.

Aber was haben eine in der Quantenphysik übliche Konstante und das Kilogramm gemeinsam? Wie können wir es für die Massenmessung nutzen? Wie funktioniert der Übergang vom Metallblock, einer leicht verständlichen und wortwörtlich greifbaren Grundlage für das Kilogramm, zum Kilogramm als quantenphysikalische Einheit und das mit dem Anspruch, diese Veränderung im Alltag nicht spürbar werden zu lassen, also die Kontinuität für die weltweiten Messungen der Masse zu wahren? Diese Fragen sind für jeden eine Herausforderung! Wir werden versuchen, sie später in diesem Artikel zu beantworten, aber zunächst widmen wir uns der Frage, warum dieser Wechsel überhaupt notwendig war.

Was war los mit dem Urkilogramm?

Seit 1889 war das Kilogramm als die Masse des Internationalen Prototyps definiert. Weltweit wurden Kopien an die Mitgliedsstaaten der Meterkonvention verteilt, welche sie als eigenen nationalen Prototyp nutzten. Jede (theoretisch identische) nationale Kopie wurde regelmäßig mit dem Internationalen Prototyp verglichen. Im Laufe der Jahre zeigten die Vergleichsmessungen, dass fast alle Kopien vermeintlich schwerer wurden als das Urkilogramm. Die letzten Vergleiche zeigten, dass die Differenz auf 50 µg (0,000 05 Gramm) angewachsen war - ungefähr die gleiche Masse wie der Flügel einer Fliege. Obwohl es dem normalen Menschen, der in einem Geschäft Mehl kauft, sehr wenig erscheint, ist dies eine riesige Menge für die Wissenschaft. In der Medizin zum Beispiel entspricht 50 μg einer täglichen Dosis D-Vitamin für ein Neugeborenes oder der Masse eines Wirkstoffs in einem handelsüblichen Medikament für Schilddrüsenerkrankungen.

Es ist recht unwahrscheinlich, dass sich die Masse des Internationalen Kilogrammprototyps in den 130 Jahren seiner „Regentschaft“ nicht verändert hat. Dennoch: Per Definition war die Masse dieses Metallstücks 1 kg. Auch wenn es statistisch gesehen unwahrscheinlich ist, so ist eine Konsequenz dieser Definition, dass die Masse fast aller weltweit verteilten Kopien über die Jahre größer geworden ist. Deutlich wahrscheinlicher erscheint es, dass das Urkilogramm an Masse verloren hat. Aber man kann es nicht messen oder nachvollziehen und kennt vor allem die Ursachen nicht. Die Frage „Was war los mit dem Urkilogramm?“ muss dementsprechend wahrheitsgetreu beantwortet werden mit „keine Ahnung“. Dies ist aus wissenschaftlicher und messtechnischer Sicht eine sehr missliche Situation und deshalb war klar: Es muss eine neue Definition für das Kilogramm geben.

 

Der Weg zum neuen, quantenmechanischen Kilogramm

Die Planck-Konstante ist eine fundamentale physikalische Konstante, d. h. sie besitzt überall im Universum den gleichen Wert. Sie taucht in den meisten quantenmechanischen Gleichungen auf und repräsentiert die physikalische Größe der elektromagnetischen Wirkung, deshalb wird sie im deutschen oft auch als Planck’sches Wirkungsquantum bezeichnet.

In den letzten Jahren, teilweise Jahrzehnten, wurde in vielen Laboratorien weltweit über voneinander unabhängige Experimente und mit der aktuell bestmöglichen Genauigkeit der Wert dieser Planck-Konstante bestimmt. Dabei wurden zwei experimentell unterschiedliche Messprinzipien verfolgt.

Die Watt-Waage bzw. Kibble-Waage war ein Weg zur Bestimmung der Planck-Konstante h. Sie verknüpft die Masse und h über die Messung eines elektrischen Stroms. Über Kugeln aus Silizium-Einkristallen führte der andere Weg zur Bestimmung von h. Dieses Messprinzip verknüpft die Masse des Silizium-Atoms mit h.

Die Wattwaage

Der Begriff Watt-Waage zeigt es bereits: das Grundprinzip dieses Experiments basiert auf dem Wägen, also dem Ausbalancieren von Kräften. Bei einer einfachen Balkenwaage wird die Gewichtskraft zweier Massen ausbalanciert. Die Gewichtskraft ist die Kraft, welche auf ein Massestück wirkt, wenn es sich in einem Gravitations- bzw. Schwerefeld, z. B. der Erde, befindet.

Die Watt-Waage ist eine sogenannte Stromwaage. Bei dieser Art von Waage wird die Gewichtskraft mit einer elektromagnetischen Kraft ausbalanciert. Eine solche elektromagnetische Kraft kann man erzeugen, indem man einen zur Spule aufgewickelten elektrischen Leiter in einem statischen Magnetfeld platziert und durch den elektrischen Leiter einen Strom fließen lässt. Dabei wird ein weiteres Magnetfeld erzeugt (in Physik-Sprache: induziert). Zwischen den zwei Magnetfeldern wirkt eine (elektromagnetische) Kraft. So eine Kraftwirkung können Sie sehr leicht nachprüfen, indem Sie zwei Magnete zusammenbringen – entweder sie haften aneinander oder stoßen sich ab.

Diese Kraft wird in der Watt-Waage zum Ausbalancieren der Gewichtskraft eines Massestücks verwendet. Dafür befindet sich das Massestück auf einem Wägeteller der auf einem solchen zur Spule aufgewickelten elektrischem Leiter befestigt ist. Diese Spule befindet sich innerhalb eines statisches Magnetfelds. Lässt man Strom nun in der richtigen Stärke und Richtung durch den elektrischen Leiter fließen, kompensiert die elektromagnetische Kraft zwischen dem statischen und dem induzierten Magnetfeld die Gewichtskraft. Das Massestück ist auf der Waage in Schwebe.

Wo taucht dabei nun die Planck-Konstante auf? Wie Sie vielleicht schon erraten haben, ist das Ausbalancieren dieser Kräfte nur ein kleiner Teil eines sehr komplizierten Gesamtprozesses mit vielen Messungen, Randbedingungen und technischen Herausforderungen. Zwei entscheidende Messungen sind die Messung der Stromstärke und der induzierten Spannung. Elektrische Stromstärken und Spannungen werden heutzutage sehr präzise mit Messmitteln bestimmt, die auf – Sie ahnen es – quantenmechanischen Prinzipien beruhen. Mehr dazu können Sie gerne bei der Einheit des Monats Januar, dem Ampere, nachlesen.

Die Wattwaage des National Institutes of Standards and Technology, dem nationalen Metrologie-Institut der USA. Foto: NIST
Die Wattwaage des National Institutes of Standards and Technology, dem nationalen Metrologie-Institut der USA. Foto: NIST

Die Silizium-Kugel

Am Beginn dieses Weges zur Bestimmung des Werts der Planck-Kontanten, steht ein sehr aufwendiger Prozess zur Fertigung von perfekten Kugeln. Nun, zumindest annähernd perfekt. Es sind Kugeln. Es sind Einkristalle. Sie bestehen nur aus einer Atomsorte: Silizium des Isotops 28Si.

Je mehr die Objekte diese drei Eigenschaften tatsächlich erfüllen, umso attraktiver sind sie für die Wissenschaft. Denn dann lassen sich erstaunliche Dinge daraus „ablesen“ bzw. „ermessen“. Nicht weil man mit Kristallkugeln in die Zukunft sehen oder das Schicksal erkennen kann, sondern weil man durch die Kombination dieser Eigenschaften – Kugel + Einkristall + nur Silizium – ermitteln kann, wie viele Atome in einer solchen, ca. 1 kg schweren Kugel enthalten sind; ungefähr 25 Quadrillionen (auf die 25 folgen also noch 24 Nullen).

Die besten Kugeln bestehen zu 99,999 % aus dem Siliziumisotop 28Si, welche als Einkristall in einer hochsymmetrischen Gitterstruktur angeordnet sind. Die Kugeln haben einen Durchmesser von rund 93,7 mm. Dabei beträgt die Abweichung von der perfekten Kugelform nur wenige 10 Nanometer (1 Nanometer = 1 nm = 1 Milliardstel Meter). Die Reinheit des Materials, die Abstände zwischen den Atomen in der Gitterstruktur und die „Topographie“ und damit einhergehend das Volumen der Kugel werden in Experimenten bestimmt. Hinzu kommen noch Untersuchungen zur chemischen Oberfläche der Kugeln, denn sie reagieren mit der sie umgebenden Luft. Das muss natürlich berücksichtig werden beim Zählen der Atome. Zusammen mit der Wägung der Kugel wird abschließend die Masse des Siliziumatoms bestimmt.

Hat man nun die Masse eines Siliziumatoms ermittelt, kommt wieder die Quantenmechanik ins Spiel. Denn in der Größenordnung von Atomen gelten die Gesetze der klassischen Physik nicht mehr und h entfaltet seine volle Wirkung. Auf den letzten metaphorischen Metern dieses Weges zur Bestimmung von h sind also ebenfalls quantenmechanischen Gleichungen die Wegbegleiter, in welche die Masse von Atomen und andere, sehr genau bekannte Naturkonstanten eingehen (z.  B. die Rydberg-Konstante und die Feinstrukturkonstante).

Eine der Siliziumkugeln im Kugelinterferometer der PTB. In diesem Messaufbau wird an vielen Punkten der Kugeldurchmesser und damit die Topographie der Kugel bestimmt.
Eine der Siliziumkugeln im Kugelinterferometer der PTB. In diesem Messaufbau wird an vielen Punkten der Kugeldurchmesser und damit die Topographie der Kugel bestimmt.

Für beide Experimente ist ein Ansatz ganz entscheidend: Solange der Wert für h noch nicht endgültig bestimmt und festgelegt war, wurde in beiden Experimente der Wert für h aus der Wägung von Massestücken berechnet. Diese Wägungen fanden im „alten Einheitensystem“ statt, führten über die üblichen Vergleichsmessungen also zurück auf das Urkilogramm. Was im ersten Moment widersprüchlich wirkt, ist jedoch ganz entscheidend für die zuvor erwähnte Konsistenz der Massewägungen beim Übergang vom „alten SI“ zum „neuen SI“.

Der Zahlenwert für die Naturkonstante wurde im alten Einheitensystem bestimmt, mit Inkrafttreten der neuen Definitionen und quasi über Nacht als konstanter Zahlenwert festgelegt und von nun an werden beide Experimente – Watt-Waage und Silizium-Kugel – in gewissem Sinne rückwärts durchgeführt. Jetzt ist der Wert für h festgelegt und die Masse von Wägestücken wird über diese Experimente berechnet. Somit kann jetzt zum allerersten Mal über die Jahre hinweg beobachtet werden, ob und wie die Masse des Urkilogramms sich ändert. Auch wenn das jetzt im Rahmen des SI eigentlich egal ist. Halt nur so aus Neugier.

 

Definition: alt und neu

Die Definition des Kilogramms lautete bis zum 19. Mai 2019:
Das Kilogramm ist die Einheit der Masse;
es entspricht der Masse des Internationalen Kilogrammprototyps.


Ab dem 20. Mai 2019 tritt die folgende Definition in Kraft:
Das Kilogramm, Einheitenzeichen kg, ist die SI-Einheit der Masse. Es ist definiert, indem für die Planck-Konstante h der Zahlenwert 6,626 070 15 × 10–34 festgelegt wird, ausgedrückt in der Einheit J s, die gleich kg m2 s–1 ist, wobei der Meter und die Sekunde mittels c und ΔνCs definiert sind.

Wie Sie sehen können, ist diese Definition deutlich abstrakter und komplizierter. Aber durch die Verwendung der Planck-Kontante als Basis für das Kilogramm gibt es auch entscheidende Vorteile! Ganz wichtig: Ob sich die Masse des Urkilogramms ändert, bereitet uns nun keine Sorgen mehr. Wenn es jemand stiehlt, so wäre das schon schade, aber die Welt des Messens wird es nicht erschüttern. Ein anderer bedeutender Vorteil: Die Planck-Konstante als Basis für das Kilogramm eröffnet der Wissenschaft neue Möglichkeiten, durch andere Messtechniken und Konzepte Massen zu bestimmen und das von nun an auch präziser für Massen, die deutlich kleiner sind als 1 Kilogramm.

Ob Sie nun zu denjenigen gehören, die sich für die quantenmechanischen Details der Neudefinition des Kilogramms interessieren oder sich eher anwendungsorientiert für Massen und Gewichte interessieren: Seien Sie gewiss, die praktische Masse eines Kilogramms hat sich nicht über Nacht geändert.

Falls Sie zur Feier des Tages (das Inkrafttreten der Neudefinition im SI!) einen Kuchen backen oder gar einen Festschmaus geben, seien Sie unbesorgt, denn bei der Umsetzung Ihrer Rezepte müssen Sie die Neuerungen nicht beachten. Guten Appetit!